In diesem Artikel erzähle ich die Geschichte eines sehr visionären CEO‘s, der bereits Ende der 90er Jahre für einen Fachverlag ein sehr interessantes „beidhändiges“ Konzept entwickelt hat und das auch, zumindest solange er in dem Haus tätig war auch „durchgezogen“ hat. Leider ist das Experiment gescheitert.

Die Idee

Der CEO, nennen wir ihn Michael, hatte festgestellt, dass seine Produktpalette eine begrenzte Zielgruppe erreichte, nämlich Expert*innen in verschiedenen Branchen. Seine Produkte waren zum damaligen Zeitpunkt notwendige Arbeitsmittel, sogenannte Loseblattwerke, die durch monatliche Aktualisierungslieferungen aktuell gehalten wurden. Für den CEO war damals bereits offensichtlich klar, dass dieses Geschäftsmodell die nächsten paar Jahre nicht überstehen würde, da sich die Technik rasant weiterentwickelte und auch die Kunden sich weiterentwickeln würden. Obwohl die damaligen Zielgruppen eher „innovationsresistent“ waren, handelte es sich doch nur um eine Frage der Zeit.

Es galt also, einerseits dafür zu sorgen, das Unternehmen mit dem aktuellen Geschäftsmodell möglichst lean auszurichten, um so kosteneffizient wie möglich zu sein, da natürlich auch die Produktionskosten für Offline-Produkte eingespielt werden mussten. Andererseits hieß es, so schnell wie möglich neue Ideen zu generieren, wie das Geschäftsmodell so verändert werden konnte, dass es langfristig erfolgreich sein würde.

Zu diesem Zweck definierte Michael mit seinem Führungsteam zwei Organisationen:

  • Die sogenannte „blaue“ Organisation entsprach der Linienorganisation. Das Unternehmen war in Form von Profit Centern organisiert, die sich jeweils um eine bestimmte Kundengruppe kümmern sollten. Zentrale Funktionen wie Verwaltung, Marketing, Vertrieb und Produktion arbeiteten für alle anderen Organisationseinheiten über ein internes Verrechnungsmodell. Hier wurde streng nach Kennzahlen geführt.
  • Die „grüne“ Organisation war der neue und kreative Teil: Hier gab es keine Führungskräfte und Mitarbeitende, sondern „nur“ Innovatoren. Die Mitglieder der grünen Organisation wurden auf Vorschlag der Geschäftsführung und der Führungskräfte besetzt.

Einziges Kriterium, um in der grünen Organisation aktiv eine Rolle zu haben war, dass die Person als kreativer Querdenker in der Organisation bekannt war, und daran interessiert war, an neuen Themen mitzuarbeiten. Diese vom Geschäftsführer geführte Organisation war in Arbeitsgruppen organisiert, die sich bestimmten Themen annehmen sollten.

Die Mitglieder der Arbeitsgruppen durften bis maximal 50 % ihrer Wochenarbeitszeit in der grünen Organisation arbeiten, da man annahm, dass sich aus den Ideen, die dort geboren werden, sowieso „blaue“ Projekte ergeben würden.

Die Arbeitsgruppen wurden jeweils von der Person geleitet, die am meisten Know-how und Energie für ein bestimmtes Thema hatte. Interessanterweise waren nur  ca. ein Drittel der Arbeitsgruppenleiter*innen in der „blauen“ Organisation auch Führungskraft, zwei Drittel waren Mitarbeitende.

Die Projektideen, die in der grünen Organisation entstanden, wurden in einem Prototyp-Stadium an die blaue Organisation – und zwar an die Leitung des jeweiligen Profit-Centers – übergeben, um dort idealerweise in die Umsetzung zu gehen.

Die Ausbeute

Nachdem die Idee in einem großen Meeting, in dem alle Mitarbeitenden vertreten waren, vorgestellt wurde, gab es eine große Aufbruchstimmung im Unternehmen. Viele, vor allem technikinteressierte, junge Mitarbeitende versprachen sich von dieser grünen Organisation, dass das Unternehmen eine ganz schnelle Veränderung durchleben wird.

Dabei übersahen sie allerdings komplett, dass die „grüne“ Organisation der Thinktank für die „blaue“ Organisation sein sollte. Die damalige Geschäftsführung war der Meinung, dass die Führungskräfte der blauen Organisation die Ideen der grünen Organisation dankbar aufnehmen würden, und für eine schnelle, wirtschaftlich interessante Umsetzung der Ideen sorgen würden.

Leider kam es anders.

Die Ideen, die in der grünen Organisation entstanden – branchenübergreifend und teilweise wirklich visionär, weil es zum Teil noch gar nicht die IT-Lösungen im Hintergrund gab, die diese Ideen zur Umsetzung gebraucht hätten – zerschellten an den „Beton-Außenwänden“ der blauen Organisation:

Die neuen Ideen, die ins System gespült wurden, wurden von den „blauen“ Teams kritisch beäugt, und viele Führungskräfte – vor allem die, die nicht in der grünen Organisation aktiv waren – bekamen Angst um ihr Standing und um ihre Macht, wenn sie die grünen Themen aufgreifen würden. Außerdem waren die „blauen“ Führungskräfte oft mit den Ideen fachlich überfordert, um diese gut beurteilen zu können.

Mitarbeitende, die in der grünen Organisation tätig waren, wurden von den „nur“ blauen Kolleg*innen eher belächelt. Wenn diese „grünen“ Kolleg*innen ihre Ideen vorstellten, wurden diese zumeist freundlich beklatscht und verschwanden dann in der großen Rundablage im Chefbüro.

Michael bekam von all diesen Erlebnissen der grünen Mitarbeitenden nur wenig mit. Diese betrachteten die blaue Organisation langsam, aber sicher als „Klotz am Bein“ und versuchten, mehr und mehr Zeit in der grünen Organisation zu verbringen. Michael und sein Steuerungsteam sahen nur diesen Trend. Der Zulauf war gut und die Ideen auch.

In den operativen Meetings der blauen Organisation gab es zumeist positive Zahlen und sehr viele kurzfristige operative Themen, sodass über längere Zeit die grüne Organisation von der Agenda der regelmäßigen Führungskräftemeetings verschwand.

Nach rund drei Monaten kam das böse Erwachen. Michael berief in der grünen Organisation ein Status Meeting ein, um zu erfahren, wie die grünen Ideen in der blauen Organisation aufgenommen wurden. Die grünen Mitarbeitenden berichteten unisono, dass die „rein blauen“ Führungskräfte praktisch überall die innovativen Ideen boykottierten, und kaum ein Projekt ein erstes Meeting überlebte. Nach und nach rückten die „Grünen“ damit heraus, dass sie in der blauen Organisation nur noch als Spinner betrachtet wurden, und die einzelnen Profit Center genauso weiterarbeiteten wie bisher. Von den damals rund 20 grünen Projektideen hatte es kein einziges in die Umsetzung geschafft.

Nach weiteren 6 Monaten, die die Situation noch verschärften, wurde das Experiment abgeblasen und seitens der Konzernspitze eine Restrukturierung veranlasst, die die Organisation von Profit Centern wieder in eine straff durchorganisierte Linienorganisation verwandelte, um Kosten zu sparen. Rund 30 % der Mitarbeitenden, vor allem die „Grünen“, verließen das Unternehmen – mehr oder weniger freiwillig.

Das Learning daraus

Ambidextrie erfordert vor allem von den Führungskräften eine Haltung, die offen ist für Neues, ohne das Bestehende abzuwerten.

Die Idee, eine innovative Unit zu bilden, würde ich auch aus heutiger Sicht noch als visionäre Idee betrachten, allerdings haben die Projektideen nur dann eine Chance auf Umsetzung, wenn die Innovatoren auch mit genügend „Sanktionsmacht“ ausgestattet sind, diese auch umzusetzen.

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